Posts Tagged ‘Militärgeschichte’

Der bunte Rock der Belle Époque

März 26, 2022

Soldaten und Offiziere trugen noch im deutschen Kaiserreich bis 1910 bzw. 1914 den sogenannten „bunten Rock“, in Bayern nicht in Preußischblau, sondern im etwas helleren Kornblumenblau, denn das Königreich Bayern unterhielt ein eigenes Heer und ein eigenes Kriegsministerium. Leider ist auf den alten Schwarz-Weiß-Fotografien diese einstige Buntheit nicht zu erkennen, und es wirkt, als hätten deutsche Soldaten schon Ende des 19. Jahrhunderts das Feldgrau des 1. Weltkriegs getragen. Maler haben zudem das Kornblumenblau der bayerischen Uniform oft falsch dargestellt. In Bayern gibt es jedoch ein Armeemuseum, in dem als Uniformexperte Herr Daniel Hohrath M.A. arbeitet. Er war bei der fachgerechten Kolorierung des Fotos durch meinen Bruder Frank von Grafenstein und bei der Zuordnung des Fotos behilflich.

Et voilá, zu erkennen sind vier Einjährig-Freiwillige des 6. kgl. bay. Infanterieregiments in Amberg im Jahr 1895, von denen einer, links sitzend, noch Gefreiter ist, die anderen schon zu überzähligen Unteroffizieren befördert worden sind. Vorne rechts sitzt mit Zigarre mein Urgroßvater Hermann v. Grafenstein (1874-1955). Mein Großmutter glaubte einst, mit ihm seien seine drei älteren Brüder Adolf, Karl und Emil abgebildet, und beschriftete das Foto entsprechend, dies stellte sich nach weiteren Recherchen als unhaltbar heraus. Adolf diente als Kavallerieoffizier in einem preußischen Ulanenregiment, Emil leistete seinen Einjährig-Freiwilligen-Dienst früher und Karl erst deutlich später ab. Hermann, übrigens Altersgenosse von Winston Churchill, der sich ebenfalls 1895 in ähnlicher Pose in Uniform ablichten ließ, nahm am 1. Weltkrieg im Range eines Hauptmanns an der Westfront teil. Ob er Mitte der 1890er Jahre ahnen konnte, dass für ihn 20 Jahre später aus dem Exerzieren im bunten Rock blutige wie triste Realität im Feldgrau des Schützengrabens werden würde?

Nachschub für den Vandalismus: Das Traindenkmal findet keine Ruhe

Juli 16, 2020

Traindenkmal geschwärzt.

Das Traindenkmal wurde mit schwarzer Farbe beschmiert und geschändet, wohl ein untauglicher Versuch, die reliefartigen Inschriften unkenntlich zu machen. Foto: Grafenstein

Das alte Traindenkmal an der Promenade in der Nähe des Ludgerikreisels ist in übler Weise mit einer teerartigen Flüssigkeit und Schriftzügen beschmiert worden. Die Täter dieser Sachbeschädigung von einer Initiative „Mahnmal statt Denkmal“ brüsteten sich namentlich in der Lokalpresse mit ihrem Vorgehen gegen das Kriegerdenkmal, das, anders als in WN und MZ dargestellt, vornehmlich an Gefallene einer Nachschubeinheit im Ersten Weltkrieg erinnert. Nachträglich eingefügte Bodenplatten erinnern auch an zwei Gefallene in Südwestafrika, was den heiligen Zorn der Aktivisten erregt. Die Stadt hat mittlerweile Strafanzeige erstattet und will das Monument zeitnah reinigen lassen, so Ordnungsdezernent Wolfgang Heuer (SPD).

Der unüberlegte Aktionismus der Gruppe erregt Kopfschütteln, da der Rat der Stadt Münster erst kürzlich beschlossen hat, die zahlreichen Kriegerdenkmäler im Stadtgebiet mit erläuternden und einordnenden Tafeln zu versehen. Sicher wird bald auch das Traindenkmal mit einer Tafel versehen werden, die die aktuelle Bewertung der Ereignisse während und nach der Niederschlagung des Hereroaufstands als Völkermord wiedergibt und auch sonst auf dem neuesten historischen Stand ist. Schon jetzt kann sich der interessierte Bürger auf einer Internetseite der Stadt zuverlässig über den Kontext der Kriegerdenkmäler in der Stadt informieren.

Ratsherr Stefan Leschniok (CDU) meint: „Der Rat hat sich, wie ich finde, für ein gutes Konzept entschieden, das Geschichte nicht einfach abräumt, gleichzeitig aber auch die negativen Seiten beleuchtet. Wer das nicht akzeptieren kann und dann auch noch Straftaten begeht, der offenbart ein höchst verkümmertes Demokratieverständnis.“

Leider sind in Deutschland Kriegerdenkmäler schon seit langer Zeit und schon vor dem derzeitigen Erstarken der Black-Lives-Matter-Bewegung und dem weltweiten Sturz von Denkmälern Gegenstand aller Arten von Vandalismus. Pauschal werden deutsche Soldaten als „Kriegsverbrecher“ verunglimpft, ganz gleich, ob ihnen konkrete Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können oder nicht, ihr Andenken soll aus der Öffentlichkeit verschwinden, so wollen es die Täter oft, so auch hier. Auch gefallene deutsche Soldaten sind aber zu Recht Teil unserer Erinnerungskultur, die allen Opfern von Krieg, Gewalt und Imperialismus gedenkt. Wahrscheinlich wird es auch bald in größerem Maßstab Denkmäler geben, die an die zivilen Opfer des Kolonialismus in einst unterworfenen Gebieten erinnern werden.

Im bundesweiten Maßstab kann man nicht sagen, dass Deutschland in unerträglicher Weise mit alten Denkmälern überfrachtet wäre, die Krieg, Nation, Kaiserzeit oder Kolonialismus rühmen. Im Zweiten Weltkrieg und danach ist vieles zerstört worden, entweder durch Bombenangriffe, weil es die Nazis eingeschmolzen haben, um daraus Kanonen zu machen, oder weil es die einrückenden Siegermächte entfernt haben. Auch in Münster stand z.B. einmal eine Kaiser-Wilhelm-Reiterstatue vor dem Schloss, die dem Rohstoffmangel der deutschen Rüstungsindustrie zum Opfer fiel.  Das Traindenkmal ist mit seinem seltenen imperialistischen bzw. kolonialen Bezug auf den Boxeraufstand und den Hereroaufstand eine echte Rarität und steht daher zu Recht unter Denkmalschutz. Mit seinem düsteren Erscheinungsbild erinnert es noch heute angemessen an das bedrückende Szenario der Schützengräben des 1. Weltkriegs. Die als überhöht kritisierbaren Inschriften, mit denen die gefallen Soldaten von ihren überlebenden Kameraden gerühmt wurden, sind ein interessantes Zeitdokument für die Bewältigungsversuche des 1. Weltkriegs in den 1920er Jahren, können aber ohnehin nur bei nahem Herantreten entziffert werden, gleich ob sie mit Farbe übergossen werden oder nicht.

Münster besitzt als einst bedeutende Garnisonsstadt zwar recht viele Kriegerdenkmäler, die zuweilen den Anstoß einer oft kritisch eingestellten Bürgergesellschaft einer großen Universitätsstadt erregen, jedoch kann man dieser auch zumuten, verständig und nicht vandalistisch oder bilderstürmerisch mit der Geschichte umzugehen.

Denn wer die Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Münsters Kriegerdenkmäler im Internet

September 9, 2018

Münster (SMS) „Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen“, so beschrieb der Schriftsteller Robert Musil im Jahr 1927 seine Einstellung zu Denkmälern. Dies gilt auch heute noch für einige Denkmäler in Münster. Das Kriegerdenkmal am Mauritztor kann dagegen schon aufgrund seiner Größe kaum übersehen werden. Dennoch: wann ist es entstanden, wer hat es angeregt und wie dachten die Münsteraner über dieses mächtige Exemplar?
Antworten auf Fragen wie diese bietet ein neues stadtgeschichtliches Angebot des Stadtarchivs im Internet. Es gibt einen Überblick über die Denkmallandschaft Münsters. Alle im öffentlichen Raum vorhandenen Gedenktafeln, Ehrenmale, Kriegerdenkmale, Mahnmale und Kriegsgräberstätten sind darin nach einem einheitlichem Raster erfasst und beschrieben.
Die neue Website bietet die Möglichkeit, einen Einblick in die geschichtlichen Hintergründe und kurz gefasste Informationen als ersten Ansatzpunkt einer Beurteilung der Denkmäler zu erhalten.  Das in Kooperation mit der Online-Redaktion des Presse- und Informationsamtes entstandene Angebot findet sich ab sofort unter www.stadt-muenster.de/kriegerdenkmale.
Die Internetpräsentation geht über die vom Stadtarchiv 2013 vorgestellte gedruckte Dokumentation „Erinnern im öffentlichen Raum. Kriegerdenkmäler – Ehrenmale – Mahnmale und Kriegsgräberstätten in Münster“ hinaus und erfasst auch die seitdem eingeweihten Gedenkobjekte. Außerdem weicht es in der Einteilung der Denkmäler insofern ab, als zwei neuen Rubriken „Erinnern nach 1945“ und „Erinnern nach 2000“ in rein chronologischer Gliederung nach Datum der Einweihung entstanden sind.
Möglichst alle Krieger-Denkmäler, Erinnerungs- und Gedenkorte sowie Grabstätten und Friedhöfe, die in Zusammenhang stehen mit kriegerischen, gewaltvollen Auseinandersetzungen und Ausgrenzungen, ihren Opfern und Folgen, wurden systematisch erfasst, eingeordnet und einheitlich beschrieben. Dabei erfuhr auch die öffentliche Wahrnehmung der Gedenkorte in Ansätzen Beachtung. Denn die Interpretation eines Denkmals kann sich durchaus ändern; wie auch das Denkmal selbst, etwa durch das Anbringen ergänzender Texttafeln.
Für alle Erinnerungsmale ist gefragt worden, mit welcher Motivation sie errichtet wurden, wer sie initiiert und wer sie wie gestaltet hat. Auch den geschichtlichen Hintergründen widmet  sich das neue Angebot des Stadtarchivs.
Um in diese Sammlung aufgenommen zu werden, muss ein Denkmal oder Mahnmal an gefallene Soldaten oder zivile Opfer von Kriegen, von regime- und kriegsbedingtem Terror und Gewalt erinnern. Ebenfalls erfasst wurden Denkmäler, die als Mahnungen zum friedlichen Zusammenleben aufgefasst werden können. Formen des Gedenkens innerhalb weltlicher und kirchlicher Gebäude sind nicht erfasst worden.

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Das Kriegerehrenmal am Mauritztor ist ein Beispiel aus dem neuen Internetangebot des Stadtarchivs. Es wurde 1909 eingeweiht und soll an die Gefallenen der deutschen Einigungskriege erinnern. Foto: Stadtarchiv Münster

Die Freiheitsstatue der Deutschen – das Hermannsdenkmal bei Detmold

Oktober 22, 2017

Das Hermannsdenkmal war mit einer Höhe von 53 Metern vor Errichtung der New Yorker Freiheitsstatue die höchste Statue der westlichen Welt. Der Bildhauer Ernst v. Bandel hatte die Errichtung des Denkmals zu seinem Lebenswerk gemacht, er starb kurz nach der Fertigstellung im Jahr 1875. Das Hermannsdenkmal erinnert an den Cheruskerfürsten Arminius und die Schlacht im Teutoburger Wald. Insofern scheint es richtig zu stehen, jedoch wurde der Teutoburger Wald nach der Schlacht benannt, nicht umgekehrt, weil man dort in der Neuzeit den Ort der Schlacht vermutete. Wo die Schlacht im Teutoburger Wald aber wirklich stattfand, ist bis heute umstritten.

Seit der Wiedervereinigung hat das Hermannsdenkmal ausweislich der Besucherzahlen etwas an Bedeutung als Pilgerstätte des deutschen Patriotismus und Touristenziel verloren, es spielt jedoch im westfälischen, insbesondere ostwestfälischen Lokalpatriotismus bis heute als Symbol für Widerstandsgeist und Sturköpfigkeit eine Rolle. Sogar die Grünen haben im Landtagswahlkampf damit geworben, während es ganz Linke außerhalb Westfalens am liebsten sprengen würden.

Bei meinem Besuch erklärte eine Französin als Fremdenführerin die Umstände des Denkmalbaus, was nicht ohne Komik ist, da das Denkmal auch eine antifranzösische Deutungsrichtung hat.

http://www.hermannsdenkmal.de/

Schreckenstein

November 1, 2016

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Halloween, Reformationstag, Allerheiligen, Allerseelen. Eine gruselige Zeit, durch die Medien geistern Horrorclowns, die Passanten erschrecken, kleine Kinder fordern in schwarzen Kostümen Süßigkeiten, die Bäume werfen ihr goldenes Oktober-Laub ab, durch die Zeitumstellung werden die Tage noch kürzer und versinken im Schwarz. Jetzt ist es Zeit für Katholiken, auf die Friedhöfe zu gehen. In Münster befindet sich ein aufgelassener Friedhof mit eindrucksvollen Grabmälern an der Wilhelmstraße. Nicht erschrecken, hier sehen wir die letzte Ruhestätte von Ludwig Roth von Schreckenstein (1789 – 1858), aus Süddeutschland stammender preußischer General und Kriegsminister, in jüngeren Jahren Teilnehmer am Russland-Feldzug Napoleons, in älteren Jahren Erzieher des Prinzen Friedrich, des späteren Drei-Tage-Kaisers. Die Klinge seines  Säbels ist leider vor einiger Zeit von der lebensgroßen Grabfigur abgebrochen worden und wird aus Angst vor Vandalen nicht ersetzt. Eine Grabkerze zeigt, dass in Münster niemand vergessen wird.

Ernst Jünger: Ein Egoschriftsteller wird durchleuchtet

Juni 16, 2014

In diesem Jahr besinnt man sich in Deutschland auf die Vergangenheit des vor hundert Jahren ausgebrochenen ersten Weltkriegs wie lange nicht. In Münster läuft derzeit die Vortragsreihe „Gelehrte im Theater“ zum Thema „Menschheitsdämmerung – der erste Weltkrieg und die Künste“. Ein Künstler, der den ersten Weltkrieg intensiv abbildete und reflektierte war auch Ernst Jünger, um den das Referat von Professor Helmuth Kiesel, Heidelberg, kreiste. Kiesel erwies dabei als ausgewiesener Kenner.

Kiesel hat die Veränderungen nachverfolgt, die Jünger über die Jahrzehnte an seinem Erstlingswerk „In Stahlgewittern“ vornahm. Außerdem hat er das Jüngers Report zugrunde liegende Kriegstagebuch ediert. Er konnte damit zeigen, wie Jünger dieses heroisierend verarbeitete. Zur Lektüre empfiehlt er die letzte Fassung der Stahlgewitter von 1978, da sie von Altersweisheit geprägt sei. Das Buch sei ein einzigartiges und stilistisch hervorragendes Egodokument mit hoher Authentizität, frei von Hass, Legendenbildung oder Politik. Nur die Fassung von 1924 enthalte nationalistische Ergänzungen, die 1934 zurückgenommen wurden.

Im Krieg hätten sich Jünger, der ein schlechter Schüler war, plötzlich Aufstiegschancen und Erfolgserlebnisse geboten. Obwohl daher positiv als „Heldenbuch“ konzipiert, hätten Linke in den „Stahlgewittern“ ein pazifistisches Wirkungspotential entdeckt, was Kiesel angesichts der Brutalität der Kampfschilderungen nachvollziehen kann, wenn er auch ins Bewusstsein ruft, dass Jünger triste Seiten des Krieges wie das Elend der Lazarette und Verbandsplätze weglässt, obwohl er sie durchaus miterlebt hat. Mit seinem Bellizismus, seiner naturwissenschaftlichen Kälte und seinem Ästhetizismus sei Jünger Exponent seiner Epoche gewesen.

Seine höchste Auflage erreichte das Buch in den 1930er und 1940er Jahren, als sich viele Menschen erneut mit dem Krieg auseinanderzusetzen hatten, jedoch bleibt es weit hinter der Auflage des Millionenbestsellers „Im Westen nichts Neues“ zurück.  Der zum geflügelten Wort gewordene Buchtitel „In Stahlgewittern“ hat Jünger übrigens aus dem Werk des Schriftstellers Hermann Stehr übernommen, so vermutet es Kiesel. Kiesel hätte gerne schon viel früher zu Ernst Jünger und seinem Bruder Friedrich Georg gearbeitet, jedoch war das Thema in der Germanistik lange Zeit tabuisiert und ein Karrierekiller. Gut, dass jetzt endlich die seriöse Aufarbeitung von Jüngers Frühwerks begonnen hat, die ja auch eine überfällige Entzauberung dieses umstrittenen wie wandlungsfähigen Egoschriftstellers mit sich bringt.

Zur Lektüre:  file:///C:/Users/Lenovo/Downloads/13851-28046-1-SM.pdf

 

Aus dem Archiv: Wo bitte geht´s zur Varusschlacht?

November 20, 2012

Dieser Beitrag erschien erstmalig am 17.5.2009 auf ZEIT ONLINE. Irgendwo im einst sumpfigen Bermudadreieck von Kalkriese, Detmold und Haltern am See wurden im Jahr 9 n. Chr. die Legionen des römischen Feldherrn Varus von aufständischen Germanen unter dem Cheruskerfürsten Arminius aufgerieben. Da sich die Historiker uneins sind, wo genau dies geschah, ist die am 15. Mai 2009 von Kanzlerin Angela Merkel eröffnete Ausstellung „Imperium-Konflikt-Mythos“ über dieses folgenreiche Ereignis auf die genannten Orte verteilt.

Haltern am See gilt nicht als Ort des Gefechts, beherbergte aber eine römische Garnison, die Legionäre stellte, die im tragischen Feldzug des Varus umkamen. In Haltern selbst ist die Ausstellung nochmal auf zwei Orte verteilt, die Seestadthalle und das Römermuseum. In der Halle ist die Hauptausstellung zu sehen, sodass man diese zuerst anpeilen sollte. Wegzeichen weisen den touristischen Legionär vom Bahnhof durch das Kleinstadt-Dickicht. Angekommen, erwartet den Besucher zwar eine nicht zu empfehlende Audioführung, aber eine imposante Ausstellung, die an das Geschehen aus römischer Sicht heranführt. Das römische Imperium wird in voller Breite von den Anfängen mit Romulus und Remus dargestellt, man wächst quasi als Römer in die Zeit des Augustus hinein, die in voller Pracht mit Leihgaben aus ganz Europa vergegenwärtigt wird. Sodann wird man mit dem Imperium in seiner ganzen geografischen Ausdehnung vertraut gemacht, selbst Konflikte fern Rom und Germanien werden ausgebreitet: So die Ost-West-Konfrontation mit dem Partherreich und den damaligen „Palästinakonflikt“ mit einer jüdischen Widerstandsbewegung. Die Ausstellung folgt damit auch dem Lebensweg des Varus, der weit im Imperium herumkam.

Ehe er nach Germanien eilte, ließ Varus im Jüdischen Krieg 2000 Juden kreuzigen, erfährt man in der Ausstellung, irritierend belegt durch einen authentischen, mit einem Nagel durchbohrten Fußknochen. Ein Fakt, über den sich die deutsche Wikipedia im Gegensatz zur Englischen ausschweigt.

Die Römer erobern viele Länder „und glauben nicht an die Gesetze Gottes“, weiß eine biblische Quelle der Juden jener Zeit zu berichten.

Aus dem römischen Glanz der Statuen, Städte und biblischen Schauplätze wird man in der letzten Etappe der Ausstellung in der Seestadthalle wie ein römischer Legionär in das mit Wandverkleidungen gruselig und undurchdringlich simulierte Dickicht der germanischen Wälder geführt. Wie Amazonas-Forscher tasteten sich die Römer entlang der Lippe ins rechtsrheinische Gebiet vor. Das Wrack eines ihrer Lastkähne liegt als Leihgabe in dem noch einige Kilometer Fußweg entfernten Halterner Römermuseum, das neben seiner Dauerausstellung aktuell noch mit Playmobilfiguren den endlos erscheinenden Zug der Divisionen des Varus illustriert.

Zum Schluss führt einen die Ausstellung in der Seestadthalle in weißen Nebel. Die Rüstung muss schwer auf den Schultern der römischen Legionäre gelastet haben. Ihre gefürchtete Waffe, der Wurfspieß (Pilum), war im Buschwerk des Urwaldes nutzlos. Man gelangt an einen Grabstein eines römischen Offiziers, der im „Krieg des Varus“, so die Inschrift, fiel, dessen Gebeine aber auf dem langgestreckten Schlachtfeld blieben.

„Die Niederlage bedeutete, dass die römische Herrschaft, die an der Küste des Ozeans nicht haltgemacht hatte, am Rheinufer ihre Grenze fand.“, so wertete schon der der antike Historiker Florus den für die Römer desaströsen Ausgang der Schlacht. Sie bedeutete die erste dauerhafte Teilung des heutigen deutschen Sprachraums in ein römisch besetztes Gebiet und ein „freies Germanien“. Dies schlägt sich noch heute in kulturellen und ethnischen Unterschieden zwischen Nord- und Süddeutschland bzw. dem Rheinland nieder: Viel weiter als die Römer konnte etwa die römisch-katholische Kirche auch nicht dauerhaft vordringen. Die Deutschen irrten infolgedessen auf ihrer nationalen Identitätssuche irgendwo zwischen der Verehrung römischer Zivilisation einerseits und germanischer Urgewalt andererseits umher. Die ständige Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Berliner Zeughaus lässt nach wie vor die deutsche Geschichte im Jahre 9 n. Christus beginnen.

Hinweis: Die beschriebene Ausstellung kann nicht mehr besucht werden. Die deutsche Wikipedia zu Varus wurde inzwischen bearbeitet. Jedoch befindet sich in Haltern ein Römermuseum, das auch die Zeit der Varusschlacht thematisiert.

In den Dunkelkammern der Geschichte: Unternehmen „Graukopf“

April 3, 2011

Warum im 2. Weltkrieg auch Russen gegen die Sowjetunion kämpften, darüber hat sich schon mancher Historiker den Kopf zerbrochen. Im Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies (JIPSS), Volume 4, Nr. 2, 2010 ist nun mein Aufsatz „Vom Putschplan zum Militärischen Experiment: das Unternehmen Graukopf“ erschienen (S. 108-127), der vielleicht einen Puzzlestein zur Beantwortung dieser Frage bieten kann. Ich stieß auf das Thema im Zusammenhang mit Erkundigungen in der Familiengeschichte. Das Unternehmen Graukopf ist zwar in der geschichtlichen Literatur bekannt, eine zusammenfassende wissenschaftliche Darstellung, die die Hintergründe sowie Vor- und Nachgeschichte erhellt, fehlte jedoch bislang. Der ursprünglich mit dem Unternehmen verbundene Plan, war bisher nur in missverständlichen Andeutungen publiziert worden. Die leicht erhältliche deutschsprachige Literatur zur Wlassow-Armee, in der Angaben zum Unternehmen Graukopf zu finden sind, ist zudem weitgehend von Zeitzeugen geschrieben und wird zum Teil wegen apologetischer Tendenzen kritisiert. Durch Einbeziehung englischsprachiger Fachhistoriker, neuerer russischer Literatur (soweit ich sie mit meinen begrenzten Möglichkeiten recherchieren konnte) und vor allem von unausgewertetem Archivmaterial scheint mir in diesem Anlauf ein distanzierterer und historisch nüchterner Blick auf die Geschehnisse gelungen zu sein, wie man ihn sich als Vertreter der 2. Nachkriegsgeneration mit Mühe und geistiger Anstrengung erabeiten kann.

So schrieb mir Professor Dr. Hartmut Rüß, Abteilung Osteuropäische Geschichte an der WWU Münster, dazu:

„Ich denke, dass Ihr Aufsatz eine wichtige Lücke füllt, auch durch das umfangreiche Dokumentenmaterial, das ihm zugrunde liegt. Der Beitrag besticht nicht nur durch die Informationsfülle, sondern auch durch die Art der wissenschaftlichen Argumentation und das das ausgewogene Urteil. Wichtig ist auch Ihr Hinweis, dass bezüglich der zahlreichen Osteinheiten innerhalb der Wehrmacht noch vieles aufzuarbeiten gilt.“