
Aktivisten der Occupy-Bewegung haben eine täuschend echt wirkendes Straßenschild aufgestellt.
Die Nachrichten über Straßenumbenennungen häufen sich. Was ist los in Deutschland? Wer ist da am Werk und warum? Es erscheint unglaublich, was für ein Gewese um Straßennamen gemacht wird, Zusatzschilder sind oft doppelt so lang wie das eigentliche Schild, Umwidmungen (Name bleibt, es soll künftig aber einer anderer gemeint), Doppelwidmungen (Name bleibt, aber zusätzlich soll noch ein anderer gemeint sein), Umbenennungen (Name bleibt nicht), Gedenktafeln, bilderstürmerischer Vandalismus und Schilderraub, Überklebungen sowie kreative Projekte lassen die Straßenschilder nicht mehr einfach so stehen, um sie ihrer banalen Funktion dienen zu lassen, die Orientierung in einer Stadt, die Zustellung von Post und das Aufsuchen von Wohnungen zu ermöglichen. Kommissionen, Gremien, Stadträte, Bürgerinitiativen, Anwohnerinitiativen und Künstler zerbrechen sich den Kopf über die richtige Wegweisung, Satiriker machen sich darüber lustig, Internetuser schalten sich ein. Da selbst Professoren ihre Fachautorität wirken lassen und erklären, Straßennamen seien von höchster Bedeutung, breitet sich das Interesse daran immer mehr aus.
Da ist der kritische, mündige und informierte Bürger aktiv geworden, der sich nicht mehr mit von Geschichte und Stadtverwaltungen gelieferten Straßennamen zufrieden geben, zugleich vielleicht seine Innovationsfähigkeit als kreativer Performer unter Beweis stellen will. Das Internet macht es so leicht wie nie, Namensgeber von Straßen zu identifizieren und sich zu empören, über Mörder, Verbrecher, Wegbereiter des Faschismus, allzu moskowitische Sozialisten und Kolonialisten, die da vermeintlich geehrt werden. Dahinter steht die denunziatorische Beschäftigung mit Geschichte, wie sie Bernhard Schlink als Kennzeichen unserer Gegenwart erkannt hat, diese Tendenz ist überall in der Gesellschaft wirkungsvoll, nicht nur im Straßennamenkampf. Die Fähigkeit sich in die historische Vergangenheit einzudenken, die Bereitschaft, historisch zu relativieren, geht zurück. Das Verständnis der Generationen für ihre Vorgängergenerationen nimmt immer weiter ab, wie zum Beispiel der Historiker Eric Hobsbawm erkannt hat, denn der gesellschaftliche Wandel beschleunigt sich immer weiter. Es spiegeln sich also auch gesellschaftliche Umbrüche in den Umbenennungen. Straßenumbenennungen treten ja gehäuft bei Systemwechseln und Revolutionen auf, etwas derartiges scheint umzugehen, wenn auch niemand eine Revolution ausgerufen hat.
Stadtverwaltungen gehen dazu über, bevorzugt die bislang in der Geschichte so wenig berücksichtigten Frauen als Namensgeberinnen zu berücksichtigen, oder sich wie stalinistische Säuberer in Personengruppen festzulegen, die sich nicht mehr in Straßenschilder niederschlagen sollen. Zeitgenössische Tendenzen können sich auch mit Opfern statt Helden auf Straßenschildern besser identifizieren. Der Krieg hat als horrifizierender und anstößiger Inhalt von Straßenschildern sowieso ausgedient, sodass neben Personen auch Schauplätze von Schlachten, also Orte, von Straßenschildern verschwinden. Man spricht von Flucht aus der Geschichte, Angst vor der Geschichte, Angst der Deutschen vor sich selbst. Erkennbar sind eine in dieVergangenheit gewendete Demokratieverteidigung in alle Richtungen, und europaweit Political Correctness und verschiedene linke Ideologien und Bestrebungen als hauptsächliche Triebfedern der Umbenennungen.
Straßenbenennungen dienen auch als Zankapfel. Auseinandersetzungen um Straßenschilder mobilisieren Menschen und markieren territoriale Ansprüche verschiedener gesellschaftlicher und politischer Gruppierungen und Milieus. Politische Gruppierungen junger Menschen, von Antifa bis Junge Union, sehen Straßennamen als irgendwie bedeutungsvoll und als Mittel der politischen Auseinandersetzung an. Diese benennen Straßen eigenmächtig und provisorisch in Nacht- und Nebelaktionen nach Opfern ihrer Feinde um, jene wollen den historischen Bestand erhalten, vor allem natürlich den westdeutschen. Da sind die Historiker, die mit ihrem Fach auch einmal etwas erreichen wollen, und wenn es die Umbenennung oder den Erhalt eines Straßenschildes geht. Die Vergangenheit bietet eine Fülle irgendwie moralisch oder politisch aus heutiger Sicht missliebiger Menschen an, die auf Straßenschildern verewigt sind und aus dem Stadtbild entfernt werden könnten. Hinzu kommen Kommunalpolitiker, die sich in Zeiten knapper Stadtsäckel politisch profilieren wollen. Straßenumbenennungen gelten als günstig, und sonstige auftretende Kosten können auf die Anlieger abgewälzt werden. Alle wollen sie ihre Wirkungsmacht erbroben, Schlachtfeld ist die Geschichtspolitik. Verschiedene politische Gruppierungen können aneinandergeraten, verschiedene Geschmäcker, Aktionisten und als moralische Lehrmeister, Richter und Besserwisser auftretende Tugendbürger geraten mit Besonnenen aneinander, die sich nicht vor Relikten aus anderen Systemen der Vergangenheit fürchten, die die heutige politische Ordnung vermeintlich in Frage stellen. Ältere wollen die vertrauten Schilder oft bewahren, während die mittlere Generation, die die Hebel in der Hand hält, die Gesellschaft mit Umbenennungen auf irgendeine Weise gestalten will. Dabei kann die manchmal aufschimmernde Vorstellung, man könne und müsse die Gesellschaft mit Straßennamen in erheblichem Maße sozialpädogisch beieinflussen und dabei problematische Geschichte verschwinden lassen, mit einiger Berechtigung als tendenziell totalitär beschrieben werden, denn Angst und Kontrollsucht sind die Väter des Totalitarismus, der unter allen möglichen Vorzeichen auftreten kann.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet, es wird anscheinend immer schwieriger, dass sich alle auf einen Straßennamen einigen, der von allen akzeptiert wird. Gleichzeitig gerät Europa immer mehr ins Abseits des Welttreibens. Der alternde Kontinent mobilisiert wirtschaftlich nicht mehr so viel wie früher. Die Industrielandschaft verwandelt sich in Museumslandschaft. In dieser gerät dann in den Fokus, wie die Museumsräume der öffentlichen Straßen und Plätze organisiert sind, welche Gedenkschilder, Tafeln und Kunstwerke an wen oder was erinnern.
Natürlich treten jetzt auch Gedanken auf, wie die Straßenumbenennerei auch wieder begrenzt werden kann. Straßen möglichst neutral nur noch sachbezogen, geschichtslos und apersonal benennen, wie es durchaus schon vielfach geschieht? Das wird den Revolutionären in irgendeiner Zukunft wieder zu wenig politisch sein. Rationale Systeme aus Zahlen und Buchstabenkombinationen, die ganze Städte überziehen, sind eingriffsfester, aber der Code aus Name und Hausnummer hat sich als sehr praktikabel erwiesen. Straßenumbenennungen nur unter bestimmten Bedingungen zu erlauben, wie das in einigen Kommunen geschieht, ist selbst wieder Gewese um Straßennamen. Das Thema wird uns also noch lange erhalten bleiben.