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„Im Westen nichts Neues“ als verstörender Kriegsfilm

November 2, 2022
Offzieller Trailer von „Im Westen nichts Neues“, seit 28.10. auch auf Netflix. Quelle: Youtube.

Achtung, Spoiler! Etwa 100 Jahre nach Ende des 1. Weltkriegs ist mit „Im Westen nichts Neues“ nun endlich eine deutsche Kino-Umsetzung des Romans von Erich Maria Remarque und der Westfront-Materie überhaupt zu sehen. Dies lag schon lange in der Luft. Vor über 20 Jahren gab es Überlegungen, Ernst Jüngers Tagebuch „In Stahlgewittern“, das ebenfalls vom Stellungskrieg an der Westfront handelt, zu verfilmen, daraus wurde offenkundig nichts. Dafür ist nun die Verfilmung von Remarques Antikriegsroman, der über weite Strecken gar nicht an der Front spielt, recht martialisch, überaus brutal und reich an Gefechten und schlammigen Materialschlachten mit Trommelfeuer, Tanks und Flammenwerfern geraten, fast keine Grausamkeit auf dem Schlachtfeld bleibt dem Zuschauer erspart. Die Kampfsituationen, in denen sich der Protagonist Paul Bäumer (Felix Kammerer) auf den feindlichen Schützengraben zubewegt, sind bewusst ähnlich gehalten, und betonen das Mühlenhafte des Krieges. Ohne es zu wissen, trägt Bäumer eine recycelte Uniform eines Soldaten, der vor ihm schon beim Sturm auf den feindlichen Schützengraben bajonettiert wurde, ein Schicksal, das auch ihn als an dessen Stelle getretenes „Menschenmaterial“ ereilen wird. Todesgefahr und Angst werden gut vermittelt. Die wuchtige Filmmusik und Ausstattung sind hollywoodreif. Regisseur Edward Berger dürfte sich zu Recht Hoffnungen auf einen Oscar machen.

Das Ende des imposanten Films ist allerdings zu reißerisch, unglaubwürdig und wie auch sonst an vielen Stellen gegen die Romanvorlage, ein irrer deutscher Sturmangriff am Tag des Waffenstillstands (!) kostet Bäumer in der buchstäblich letzten Kriegsminute das Leben (im Roman fällt er im Oktober, einem Tag, an dem der Heeresbericht „Im Westen nichts Neues“ vermeldete). Dem tragischen Tod im Film liegt eine von den Filmemachern erfundene Selbstherrlichkeit des fiktiven Generals Friedrich (Devid Striesow) zugrunde, der in Kenntnis des vereinbarten Waffenstillstands als reaktionärer Bösewicht um der Ehre willen noch einen Angriff eine Viertelstunde vor Kriegsende befiehlt. Dies ist problematisch, denn der Film wirkt geradezu „echt“ wie eine Dokumentation, die ein Geschehen vermittelt, das sich in die historische Realität einfügt, die historische Realität sah aber so aus, dass das deutsche Heer in November 1918 nur noch mit dem Halten der Westfront und der Wahrung der inneren Disziplin beschäftigt war.

In dem Kriegsdrama Edward Bergers erfährt man wenig vom Innenleben der oft nuschelnden Filmfiguren jenseits von Entsetzen, Angst, Trauer, Hunger und Sehnsucht nach zarter Weiblichkeit und vermag keine „Beziehung“ zu ihnen aufzubauen. Die Episode des Heimatbesuchs, eine Schlüsselstelle im Roman, die von der Sprachlosigkeit der Soldaten gegenüber den Daheimgebliebenen handelt, ist im Film ganz weggelassen. Dafür wurde eine historisch fundierte Parallelhandlung mit Daniel Brühl als Matthias Erzberger eingefügt, der als deutscher Delegationsleiter den Waffenstillstand in Compiègne verhandelt und dem Sterben ein Ende machen will. Diese Parallelhandlung verschmilzt schließlich am Schluss des Films mit dem unglücklichen Ende Bäumers.

Mancher Kinobesucher wird wohl noch einige Zeit durch den Film in gewissem Sinne kriegstraumatisiert sein, was noch durch die Einsicht verschlimmert wird, dass in der Ukraine, nicht weit von uns, wieder ein heftiger Krieg tobt, in dem sich an der über 1000 Kilometer langen Front über weite Strecken ebenfalls nicht viel zu bewegen scheint. Ein Waffenstillstand ist aber nicht in Sicht. Offenbar sind noch lange nicht genug Menschen gestorben.