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Vom Nutzen und Nachteil der Geschichtswissenschaft für den Journalismus

Juni 11, 2011

„Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, unter diesem Titel verwarf und verhöhnte Friedrich Nietzsche in einem Essay die Auseinandersetzung mit Geschichte in seiner Zeit.

Aber  Erinnerung und Relikte der Vergangenheit sind nun einmal da, gleich ob das dem Leben nützt oder nicht, zur ihrer Ordnung, Rationalisierung und (Er-)Klärung bedarf es einer Wissenschaft.   Indem sich der Journalist in der Gesellschaft bewegt, begegnet auch er Relikten und Erinnnerungen, historische Kenntnisse helfen ihm bei der Einordnung.

Für angehende Journalisten halte ich ein Geschichtsstudium oder die Beschäftigung mit Geschichte daher nach wie vor für sinnvoll. Zudem müssen geschichtliche Themen etwas ähnlich recherchiert und erzählt werden, wie man später als Journalist Berichte aus der Gegenwart abarbeitet. Immer geht es ums Geschichtenerzählen, ums Analysieren sozialer Situationen, darum, herauszufinden, wie es eigentlich (gewesen) ist, und darum, gegenüber den Quellen kritisch zu sein. Auch Soziologie und Politikwissenschaft kommen ohne historische Stoffe nicht aus, sonst würden sie in der Luft hängen.

Sodann kann Auseinandersetzung mit Geschichte die Antizipationsfähigkeit des Journalisten schulen, wenn er denn in der Lage ist, die entsprechenden Abstraktions- und Transferleistungen zu erbrigen. Er hat dann etwa schon vor Beginn der Recherche Anhalte, wonach er in einem gegenwärtigen Konflikt, Krieg oder einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung suchen muss, welche Phänomene wohl mal wieder anzutreffen sein müssen, auch wenn es keine aktuellen Nachrichten über sie gibt, beispielsweise, weil bestimmte Dinge in Kriegen verheimlicht werden, und wie das alles einzuschätzen sein könnte. Stichwort: Problem-Sensibilisierung.

Schon der antike Historiker Thukydides meinte, dass sich Geschichte „so oder so ähnlich“ aufgrund der gleichbleibenden menschlichen Natur immer wieder wiederholen müsse. Diese Auffassung darf freilich nicht zum historischen Vorurteil, zu einem Geschichtsdeterminismus und einem Fatalismus der Annahme der Wiederholung des Immergleichen führen. Historiker können definitiv nicht die Zukunft vorhersagen und sind keine Hellseher.

Der Historiker erfährt aber vielerlei Anregungen über die menschliche Psyche, das Verhalten des Menschen, über das Funktionieren von Gesellschaften, was so möglich ist unter den Menschen.

Sodann weiß der Historiker-Journalist auch um Grundlagen unserer heutigen Gesellschaft, und kann die geschichtliche Ursache von Konflikten, Institutionen und Bräuchen erklären, aber sie auch als überlebt in Frage stellen. Der Historiker weiß neben der Konstanz auch um die Vergänglichkeit der Dinge und um den sozialen Wandel.

Nicht zuletzt bietet die Geschichte dem Journalisten auch einen unendlichen Themenfundus, wenn er aus der Gegenwart alleine die Zeitung nicht füllen kann. Keine Tageszeitung kommt ohne die Geschichtsthemen aus. Die Geschichte hat immer das letzte Wort und spricht ihr Urteil über alles, was Menschen versucht und erstrebt haben. Womit wir auch beim Nachteil von historischen Themen wären: Die Geschichte soll ja nach einem Ausspruch die weiseste Lehrmeisterin mit den unaufmerksamsten Schülern, sein, sodass wohl viele Geschichtsartikel auch überblättert werden. Selbstverständlich können auch Journalisten, die sich mit historischen Themen befassen, Einschüchterungs- und Abwehrversuchen ausgesetzt sein, wenn Staaten oder gesellschaftliche Gruppen ein Interesse daran haben, dass bestimmte Ausschnitte der Geschichte vergessen oder verdrängt werden.