Deutschland gilt als das Land der Atomkraftgegner und hat mit Abschaltung der letzten Atomkraftwerke den Ausstieg beendet. Im starken Kontrast dazu bewirkt jedoch der Großangriff Russlands auf die Ukraine und die kaum verhohlene Drohung Putins mit einem Atomschlag und dazu die Energiekrise eine Veränderung der Stimmungslage bzgl. Atomkraftwerken und Kernwaffen: Drei Viertel der Befragten sind mittlerweile nach Umfragen für eine Überprüfung des Atomausstiegs. War 2021 noch eine Mehrheit von 57 Prozent für den Abzug der in Deutschland stationierten amerikanischen Atomwaffen, war 2022 nun eine Mehrheit von 52 Prozent für deren Verbleib. Auch in der Ampel-Koalition gab es ein Umdenken.
In deutscher Politik, Medien und Sicherheitskreisen werden seit 2022 wieder Stimmen laut, die die Schaffung europäischer Atomstreitkräfte durch Zusammengehen mit Frankreich oder gar deutscher Atomstreitkräfte fordern oder thematisieren. Jüngst haben im Februar 2024 die Katarina Barley (SPD) und Christian Lindner (FDP) die Frage europäischer Atomstreitkräfte erneut aufs Tapet gebracht.
Hintergrund sind auch Verunsicherungen über die Verlässlichkeit der nuklearen Beistandsgarantie und des NATO-Verbleibs der USA, die zuletzt seit dem Hochkommen Donald Trumps aufgetreten sind und insbesondere im Hinblick, auf dessen befürchtete Wiederwahl 2024 fortbestehen, immerhin stand Trump 2018 als Präsident schon kurz davor, aus der NATO auszutreten.
Da eine Debatte mit prominenter und umfassender Beteiligung keine Nischendiskussion mehr ist, bin ich in einer wissenschaftlichen Arbeit der Frage nachgegangen und habe zu verklären versucht, was für und was gegen eine atomare Bewaffnung Deutschlands oder eine europäische Atomstreitmacht unter Beteiligung Deutschlands im Zusammengehen mit Frankreich spricht. Die immer noch aktuelle Seminararbeit aus dem Jahr 2022 ist jetzt im GRIN-Verlag unter dem Titel „Deutsche und europäische Atomstreitkräfte aus neorealistischer und historischer Perspektive“ erschienen.
Nach einer Klärung der Grundannahmen des Neorealismus nach Kenneth N. Waltz, der zur theoretischen Grundlage der vorliegenden Arbeit gemacht wird, wird zunächst untersucht, was Waltz, der sich intensiv zu Fragen atomarer Rüstung Gedanken gemacht hat, zu Perspektiven für Proliferation und für deutsche oder deutsch-französische Atomstreitkräfte (vorher-)gesagt hat. Die Geschichte wird dann auch anhand weiterer Quellen befragt: Welche Wurzeln und Vorläufer hat die aktuelle Debatte in der bundesdeutschen Geschichte? Warum hat Deutschland nie Atomstreitkräfte aufgebaut oder Alternativen zum atomaren Schutzschirm der USA in Form der Beteiligung an französischen oder europäischen Atomstreitkräften verwirklicht?
English version:
Germany is considered the land of nuclear opponents and has completed its exit with the shutdown of the last nuclear power plants. However, in stark contrast, Russia’s major attack on Ukraine and Putin’s barely veiled threat of a nuclear strike, along with the energy crisis, have caused a shift in attitudes towards nuclear power plants and nuclear weapons: Three-quarters of respondents are now in favor of reviewing the nuclear phase-out, according to surveys. While in 2021, a majority of 57 percent supported the withdrawal of American nuclear weapons stationed in Germany, by 2022, a majority of 52 percent favored their retention. Even within the Ampel Coalition, there has been a reconsideration.
Since 2022, voices have emerged again in German politics, media, and security circles advocating or discussing the creation of European nuclear forces through cooperation with France or even German nuclear forces. Recently, in February 2024, Katarina Barley (SPD) and Christian Lindner (FDP) once again brought up the issue of European nuclear forces.
This is also fueled by uncertainties about the reliability of the nuclear assistance guarantee and the USA’s NATO membership, which have arisen since the rise of Donald Trump, and particularly in light of his feared reelection in 2024. After all, Trump came close to withdrawing from NATO during his presidency in 2018.
As a debate with prominent and comprehensive participation is no longer a niche discussion, I have addressed the question in a scholarly work, examining the arguments for and against Germany’s nuclear armament or a European nuclear force involving Germany in cooperation with France. The still relevant seminar paper from 2022 has now been published by GRIN Verlag under the title „German and European Nuclear Forces from a Neorealist and Historical Perspective.“
After clarifying the basic assumptions of Neorealism according to Kenneth N. Waltz, which serves as the theoretical foundation of this work, it is first examined what Waltz, who has extensively considered issues of nuclear armament, has (previously) said about perspectives for proliferation and for German or German-French nuclear forces. History is then also explored through other sources: What are the roots and precursors of the current debate in German history? Why has Germany never built nuclear forces or realized alternatives to the nuclear umbrella of the USA in the form of participation in French or European nuclear forces?